traffic in yogyakarta, indonesia

Verkehr und Entwicklung

Täglich bewegen wir uns im wild wuchernden Verkehr auf asiatischen Straßen. Das ist gefährlich. Das ist anders als jeder Verkehr, den wir kennen. Es ist voll. Überall bewegt sich alles in jede Richtung. Die öffentliche Planung, der unendliche Stau, der trotzdem ungebrochene Wunsch nach einem Auto, das wilde Verhalten im Verkehr, die ungeschriebenen Gesetze der Straße – alles erscheint in unseren Augen absurd. Kopfschüttelnd und gleichzeitig fasziniert und begeistert bewegen wir uns, gewöhnen uns, meistern das Chaos, fühlen uns sicherer, umgehen den Stau, rätseln aber auch über Erklärungen und phantasieren über Abhilfen. […]

Es macht dabei großen Spaß, sich mit dem Motorroller in das Abenteuer zu stürzen. Die Freiheit der individuellen Fortbewegung, der Wind um die Ohren, das Adrenalin der gemeisterten Herausforderung, die Pfade abseits der Hauptstraßen, die Flexibilität, das Eintauchen, Teil zu sein vom chaotischen Strom – das gibt Hochgefühle.

Hier in Indonesien habe ich schon einiges gelernt:

  • Es ist nicht ganz so gefährlich, wie es aussieht.
  • Die aufgezeichneten Fahrstreifen sind nur eine grobe Orientierung.
  • Es kann jederzeit von jeder Seite etwas meine Fahrbahn kreuzen.
  • Links fahren!
  • Es gibt meist keine Bürgersteige.
  • Fußgänger haben ohnehin wenig Platz und sowieso kaum Rechte.
  • Am Straßenrand immer einen ca 1,5m breiten Streifen frei lassen. Hier bewegt sich der „lokale Verkehr“: Menschen, die aus Läden auf die Straße treten, die vor Restaurants auf der Bank sitzen, die am Tresen eines kleinen Ladens stehen. Hier parken die fahrenden Garküchen und versammeln ihre Gäste. Hier rennen und spielen die Kinder. Hier fahren Fahrräder und Mopeds in Gegenrichtung, hier preschen die Fahrzeuge aus den Seiten- auf die Hauptstraße.
  • Aus der Seitenstraße kommend, biegt man ohne zu gucken links in den fließenden Verkehr ein.
  • Autos haben Vorrang.
  • Es gibt viermal mehr Mopeds als Autos.
  • Als Fußgänger sind Straßenüberquerungen eine gefährliche und zeitraubende Angelegenheit.
  • Abstand halten ist nicht gern gesehen. Der wenige zur Verfügung stehende Raum soll optimal genutzt werden.
  • Hupen ist gut. Hupen ist kein Vorwurf. Hupen bedeutet vor allem: Hier bin ich.
  • Auch grobes, gefährliches Fehlverhalten von anderen wird nicht kommentiert. Offener Streit ist nicht gewünscht.
  • Ich denke nur an mich. Freundliche Gesten (jemanden vorlassen, Platz machen, warten) führen zu Verwirrung.
  • Drängeln ist in Ordnung.
  • Wenn es irgendwo Platz gibt, kann ich ihn nutzen. Auch auf der Gegenspur.
  • Beim Überholen fahre ich direkt auf die Stoßstange des Vorderwagens auf, warte dort auf meine Lücke und schere dann aus. Wenn es eng wird, macht der entgegenkommende Verkehr (ein wenig) Platz. Oft ist es atemberaubend knapp.
  • Der Stärkere hat Recht.
  • Es geht um den Flow. Mit dem Moped möglichst nicht stoppen. Unpraktisch.
  • Es gilt die Verabredung: Ich gucke nur nach vorne, was hinter mir passiert, müssen die anderen regeln. Das gilt erstaunlicherweise auch für gewagte Überholmanöver oder das Einbiegen in den Verkehrsfluß. Rückspiegel sind entbehrlich.
  • Es gilt weiter: Solange mein Fahrverhalten für die anderen absehbar ist, geht alles. Mutig Kreuzen, Abbiegen, Einfädeln, Anhalten kann ich also jederzeit, wenn ich es langsam genug tue, dabei blinke und meine Mitfahrer mit den Armen wedeln. Der Flow wird sich um mich herum bewegen.
  • Jeder kann fahren. Drei 9-jährige Kinder zusammen auf dem Moped sind auf ländlichen Straßen keine Seltenheit. Viele fahren ohne Führerschein.
  • Was rein passt oder drauf, kann mit. Autos, LKWs und Mopeds transportieren unglaubliche Mengen an Menschen, Kisten, Säcken, Stapeln, Strohballen, … Eine fünfköpfige Familie kann durchaus auf einem Moped fahren. Ganze Marktstände und Restaurants passen auf ein Fahrrad.
  • Stau gehört dazu. Dass eine Fahrt von wenigen Kilometern voraussichtlich mehrere Stunden dauern wird, bringt einen nicht dazu, die Fahrt oder das Verkehrsmittel zu überdenken.

Die Straße bringt eigene Berufe mit sich. Der Ampelmann. Wo Ampeln fehlen, stehen an kritischen Kreuzungen oder Ausfahrten Männer in Warnjacken, die mit roten Fahnen, Leuchtstäben und Trillerpfeifen den Verkehr regeln. Mitten in den dichten Abgasen, zentimeternah umwirbelt vom Verkehrsstrom verschaffen sie sich Respekt. Der Überquerer. An strategischen Punkten helfen Männer mit Pfeifen und Fahnen Kindern und alten Menschen, die Straße zu überqueren. Es ist mir ein Rätsel, wer diese Menschen „beauftragt“ hat, ob sie bezahlt werden, ob es Eigeninitiative ist, ob die Wohngegend das organisiert? Der Parkwächter. Jeder Zentimeter Straßenrand wir zum Parken genutzt. Und jeder Meter ist einem Parkwächter zugeteilt. Sie sind an ihren beschrifteten Jacken zu erkennen und sorgen dafür, dass Autos und Motorräder optimal platzsparend geparkt werden. Oft schieben sie selbst die Motorräder auf einen Parkplatz, haken die Helme fest und bringen das Moped bei Abfahrt auch wieder in Stellung, übergeben den Helm. Dafür hat sich eine Standard-Parkgebühr von 1.000 Ruphias je Moped (6 Eurocent) und 2.000 Rupiahs je Auto eingebürgert, selten mehr. Dabei macht es keinen Unterschied, ob ich kurz eine Zeitung kaufe oder erst nach Stunden wieder komme. An offizielleren Stellen (vor Museen, großen Geschäften, Kinos, etc) gibt es dafür Parkscheine (die mehrfach benutzt werden).

Am Abend, nach vielen Kilometern auf der Straße, machen wir uns wieder Gedanken, versuchen zu Verstehen.

Kann Verkehr uns etwas über die Stimmung in der Gesellschaft sagen? Muss wachsender Wohlstand diese Sackgasse mit sich bringen? Gibt es wirklich nur die Antwort, mehr Straßen zu bauen, die – wie wir wissen – mehr Verkehr nach sich ziehen? Muss wirklich JEDES Land die gleichen Fehler machen und dabei Natur, Umwelt, Städte und Lebensqualität nachhaltig schädigen? Welche Gesellschaft kann solidarisches (Verkehrs-)Verhalten mit sich bringen? Was kann Umdenken einleiten? Wie soll es hier aussehen, wenn die Autodichte der armen und mittelreichen Länder, die der reichen Länder erreicht?

Viele Fragen – aber keine einfachen Antworten. Verkehr ist ein komplexes Thema, berührt dabei praktisch jeden Lebensbereich. Politik, Umwelt, Entwicklung, Verkehr, Systemfrage, Psychologie, Soziologie. Wir sind noch mitten drin. Und vergnügen uns derweil im tosenden Verkehr.

Zur weiteren Debatte ein paar Fakten

  • 1,24 Millionen Menschen sterben weltweit jährlich auf den Straßen: täglich ca. 3500 Verkehrstote (WHO 2011). Tendenz steigend.
  • 92% davon sterben in armen und mittel-reichen Ländern. Nur ca 8% sind es in den reichen Ländern, in den sich ein Großteil des Verkehrs abspielt (47% der weltweit registrierten Fahrzeuge).
  • Die Opfer sind wiederum zu größten Teilen die arme Menschen: am meisten trifft es Fußgänger, dann Mopedfahrer.
  • In 2011 starben mehr Menschen an „Verkehr“ als an Malaria oder Tuberkulose.
  • Opfer sind meist Männer. Am ehesten trifft es Männer zwischen 15 und 29 Jahren.
  • Für 15-29-Jährige sind Verkehrsunfälle weltweit die Todesursache Nummer eins.
  • Menschen zwischen 15 und 44 Jahren machen 59% der Verkehrstoten aus.
  • Die Weltbank, EU, Entwicklungsbanken und andere Organisationen setzen mit ihren Finanzhilfen auf Straßenbau als Motor für Entwicklung. Dabei meist unzureichend begleitend in Sicherheit, Fußgängerverkehr oder öffentlichen Nahverkehr investiert (1-3% der Kosten).
  • Neue Straßen sind daher oft schnell aber risikobelastet. Die Durchschnittsgeschwindigkeit steigt ebenso wie Opferzahlen.
  • Trotz hoher volkswirtschaftlicher Kosten werden Verkehrsopfer nicht als Kostenfaktor gesehen.
  • In armen und mittelreichen Ländern kosten Verletzte und Tote im Verkehr 5% des BSP, in reichen Ländern 2%.
  • Steigender Wohlstand ging immer mit steigenden Verkehrstotenzahlen einher. Seit den 1970er Jahren haben jedoch Maßnahmen zur Halbierung der Verkehrstoten in den reichen Ländern geführt.
  • Ein Speedbump in Africa kostet 7 US-$.
  • 84% der Straßen weltweit haben keinen Bürgersteig.
  • Eine Geschwindigkeitsreduzierung um 5% kann die Anzahl der tödlichen Unfälle um 30% zurückbringen.

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